Von Lisa Clever versus Alfred Angst

Drohen Apotheken im Gefolge der immens wachsenden Fähigkeiten technischer Systeme zu Rationalisierungsopfern zu werden – oder können sie clevere Gestalter des Wandels werden?

Und wer ist denn nun das Rationalisierungsopfer?  AdobeStock 200361434_C_Julien_Tromeur)

Denken wir uns hypothetisch die künftige Kollegin Lisa Clever und im Gegensatz dazu einen nicht untypischen Kollegen der Jetzt-Zeit:

Alfred Angst betreibt eine recht gut laufende Kleinstadt-Apotheke und eine etwas kleinere Filiale im Nachbarort. Sein Leben wird zunehmend von Unbehagen, Angst und Wut auf die „Oberen“ der Gesundheitspolitik bestimmt. Das Thema „Personal“ wird immer drängender. Spricht man ihn an, bricht es aus ihm heraus: Warum wird uns nicht endlich mehr Wertschätzung entgegengebracht? Wo bleibt die lange fällige, kräftige Honorarerhöhung? Und es mischen sich kritisch-pessimistische Töne darunter: Wird man uns in Zukunft überhaupt noch brauchen? Machen das Belieferungsgeschäft nicht professionelle Logistiker günstiger? Wird unser fachliches Know-how nicht alsbald durch Computersysteme, künstliche Intelligenz und Telepharmazie ersetzt?

Das ist zu guten Teilen schließlich nur eine Frage des gesetzlichen Rahmens, und den kann man ändern. Am Ende stellt sich Alfred Angst die Frage: Werde ich auf meine alten Tage noch arbeitslos, wegrationalisiert wie so viele andere Stellen und Berufe in der Geschichte auch? Immerhin muss er ehrlicherweise beim Blick auf seine betriebswirtschaftlichen Abrechnungen feststellen, dass das „Schmerzensgeld“ bisher nicht so schlecht war, wenn auch gerade mal wieder deutlich unter Druck. Es wäre also durchaus etwas zu holen, ginge man die Rationalisierung ernsthaft an. Käme es tatsächlich so – Automaten-/Video-Apotheken, mehr Versand, Telepharmazie von irgendwo her –, Alfred Angst wäre ein offenkundiges Rationalisierungsopfer, und er trüge seinen Namen zu Recht.

Ganz anders unsere Lisa Clever. Schon frühzeitig war ihr klar, „wo der Hammer hängt“. Ihre Lage war ähnlich derer von Alfred Angst – zwei Apotheken. Die kleinere Filiale hat Lisa schon bald zu einer Automaten- und Video-Apotheke umgerüstet (im Denkmodell wollen wir mal annehmen, dies wäre rechtlich möglich). Damit hatte sich das Personalthema spürbar entspannt, und die Kostensituation auch. Es bleibt jetzt wieder richtig was übrig im Nachbarort, mit weitaus weniger Aufwand und Stress. Aktuell überlegt sie, sogar die Hauptapotheke weitestgehend zu automatisieren, Räumlichkeiten zu verkleinern und nur noch wenige Kernzeiten anzubieten für die Dinge, die wirklich persönlichen Kontakt oder „Handanlegen“ (wie Rezepturen) erfordern. Vielleicht – man kann ja träumen – wird sie absehbar sogar nur noch Fern-Apotheken haben, sich vielleicht andere Standorte ausgucken. Würde man Lisa Clever nun auch als Rationalisierungsopfer bezeichnen? Oder nicht vielmehr als clevere (nomen es omen …) Investorin?

Der Blickwinkel zählt

Es ist eben alles eine Frage der Perspektive. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Wenn ein „Disruptor“ von außen mit so etwas kommt, ist das Geschrei natürlich groß, die Bedrohungslage offensichtlich. Tatsächlich drohen dann Verdrängung und die Umverteilung einer Menge Geld von vielen kleineren Taschen in sehr wenige große. Diese Vermögenskonzentration ist ein Kernthema der Digitalisierung („the winner takes it all“). Würden jedoch die potenziell Betroffenen proaktiv und mit ihrer Orts- und Marktkenntnis die Chancen nutzen, sähe das ganz anders aus.

Veränderung – Gefahr oder Chance?

Natürlich hinken solche holzschnittartigen Beispiele gerne. Und dennoch bleibt die Kernaussage: Wenn sich die Technik weiterentwickelt und ein insbesondere (volks-) wirtschaftlicher Nutzen auf der Hand liegt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Technik auch durchsetzt. Standespolitik, Lobbyismus und entsprechend gesteuerte Gesetze mögen das verzögern; aufhalten können sie es nicht. Deshalb kommt es darauf an, sich solchen Techniken proaktiv zuzuwenden, sie auszuentwickeln und vernünftig einzurahmen (genau das tun Disruptoren gerne nicht, da reifen die Bananen beim Kunden), aber sie eben auch nicht zu bekämpfen und als „No go“ zu brandmarken. Und so wird es eines Tages Automaten-Apotheken geben, und eine KI wird sehr viel unseres heute noch so hochgelobten „pharmazeutischen Sachverstandes“ abbilden. Ob diese Systeme (mit mächtigen Investoren im Hintergrund) uns übernehmen und verdrängen, oder uns assistieren, weil wir sie aktiv in die Hand genommen haben – dazu schaue man auf unseren Alfred Angst und unsere Lisa Clever.

„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, und die anderen Windmühlen.“

Ein Sprichwort aus China

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Prof. Dr. Reinhard Herzog

Apotheker

Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.